Shibari ist eine japanische Form der Fesselung. Um genau herauszufinden, was das bedeutet, hat Henry seine Freundin in einer privaten Sitzung gefesselt.
Meine Freundin ist von dem ganzen Erlebnis so entspannt, dass sie in eine Art meditativen Schlaf fällt.
SHIBARI
Nervös sitze ich im Auto auf dem Weg zu unserer Shibari-Paar-Session. Ich weiß nicht genau, was mich erwartet. Was ich weiß, ist, dass mein Partner bald von einer anderen Frau mit meterlangen Seilen weitgehend nackt gefesselt werden wird.
Ein spannender Gedanke. Aber bei Shibari geht es um mehr als nur um Geilheit, wie man mir vorher am Telefon erklärt hatte. Das Gefühl, sich der Fesselung zu ergeben, wäre – paradoxerweise – sehr befreiend. Und es kann Emotionen freisetzen, besonders zusammen mit einem Partner. Wäre es dann eher eine Therapie?
ERWARTUNGEN
Wenn wir den Raum betreten, werden wir nach unseren Erwartungen gefragt und danach, was wir erleben möchten. Meine Partnerin gibt zu, dass sie insgeheim eine unterwürfige Rolle ziemlich aufregend findet und neugierig darauf ist. Vor allem aber findet sie es schrecklich, sich zu entblößen und sich zu ergeben.
Zuerst dachte ich, Shibari sähe aufregend aus. Insgeheim, weil ich es mir nicht erlaubt habe, mich in sie zu vertiefen. Bis ich einmal mit der Shibari-Praktikerin Michelle Coops bei einem tantrischen Retreat darüber sprach. Die langsame und sinnliche Art, den Knoten zu binden, gefällt mir sehr gut.
GEFÜHL DER SICHERHEIT
Michelle arbeitet nicht nur als Führungsexpertin, sondern gibt auch Shibari-Sessions. Dies kann allein oder zu zweit geschehen. Sie erklärt, dass es beim Shibari um Hingabe und Sinnlichkeit geht, aber auch um das Aufzeigen von Grenzen und Wünschen und das Erleben von Sicherheit.
Anhand einer Schaufensterpuppe, die neben dem Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer steht, erklärt sie, welche Möglichkeiten es gibt. „Das ist Cees“, sagt sie und zeigt auf die in Seile gewickelte Puppe. „Wenn man viel Sicherheit erfahren will, kann es schön sein, in einer Art Fötusstellung mit den Händen vor sich gefesselt zu sein. Wenn Sie sich offener fühlen wollen, kann zum Beispiel eine Position mit den Händen auf dem Rücken in Ordnung sein.
KEINE LEDERGÜRTEL
Shibari ist nicht wie Bondage in 50 Shades of Grey. Dabei geht es eher darum, was passiert, wenn jemand gefesselt ist, wie beim Sex. Beim Shibari gibt es keine Ketten oder Ledergürtel, sondern nur Seile. Es geht auch mehr um die Erfahrung, gefesselt zu sein und das Gefühl, gefesselt zu sein.
Ursprünglich ist Shibari eine Kunstform, und die Knoten und Seile am Körper meiner Freundin sehen wunderschön aus. Über und unter ihren Brüsten befinden sich Seile, und während sie auf einer Matratze sitzt, sind ihre Arme – wie besprochen – auf dem Rücken gefesselt. Währenddessen lege ich eine Hand auf ihr Bein, damit sie spürt, dass ich in ihrer Nähe bin.
PRÄSENZ SEIN
Das ist hauptsächlich meine Rolle, nämlich präsent zu sein. Das Anbinden muss ich jemandem überlassen, der weiß, was er tut. Es gibt auch Raum für Berührungen: manchmal eine beruhigende Umarmung in einem Moment der Erregung, manchmal eine sinnliche Liebkosung. Es gibt auch einige Spielzeuge, wie Pfauenfedern und eine Art Rad mit scharfen Zähnen. Ich lasse die Peitschen so, wie sie sind.
Während ich mich über das Spielzeug beuge, fragt Michelle, ob mein Freund noch weiter gehen und ein oder beide Beine ebenfalls gefesselt haben möchte. Alles wird besprochen und wir fühlen uns beide sehr sicher. Und diese Erfahrung gemeinsam zu machen, ist etwas ganz Besonderes.
SCHLAF
Die Spielzeuge bewirken nicht viel, denn meine Freundin scheint von dem ganzen Erlebnis so entspannt zu sein, dass sie in eine Art meditativen Schlaf fällt. Ich lege die Federn und das seltsame Zahnrad zur Seite und beobachte, wie ihr rechtes Bein in eine Art sexy Stickerei gehüllt ist.
Auch Michelle hat sichtlich Spaß daran, so dass es nicht klinisch und distanziert wirkt. Es ist eine Erfahrung von uns dreien. In den richtigen Momenten ist sie klar und entschlossen, in den richtigen Momenten weich und zart.
AUFLOCKERUNG IST DAS DESSERT
Das wird auch deutlich, wenn wir alle Knoten vorsichtig lösen. Die Art, wie die Seile am Körper meiner Freundin entlanglaufen, ist sinnlich und aufregend. Die speziell für diesen Zweck hergestellten Seile, die sich zwar rau anfühlen, aber nicht scheuern, hinterlassen deutliche, sichtbare Spuren.
„Das ist ein Ding“, sagt Michelle lachend, und ich muss ihr zustimmen, dass die Flecken wirklich geil aussehen. Wenn meine Freundin nach der Sitzung in meinen Armen liegt, gibt es keine Worte. Es fühlt sich einfach – kein Wortspiel beabsichtigt – sehr verbunden an.
ZEREMONIE IST FAKULTATIV
Wir beenden die Sitzung mit einer Art kurzer Zeremonie, in der wir alle drei über unsere Erfahrungen berichten. Zu Beginn der Sitzung gab es auch Raum für Rituale, wie das Nachdenken über eine Absicht. Aber das ist nicht notwendig, sagt Michelle.
Auf der Rückfahrt im Auto fühle ich mich sehr geerdet und dankbar. Als ob ich durch die Seile auch ein bisschen mehr mit meinem Freund verbunden bin.